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Beeindruckend modern zeigt sich die Passage im neu erbauten Museum für europäische und mediterrane Kulturen (MuCEM). Bildnachweis:Rudy Ricciotti

Städte mit neuen Gesichtern

Marseille in Frankreich und Košice in der Slowakei sind die Kulturhauptstädte 2013. Die beiden Städte verbindet ihre jeweilige Brückenfunktion: Marseille ist eines der Tore Europas zum südlichen Mittelmeerraum, Košice seit Jahrhunderten ein wichtiger Knotenpunkt zwischen Mittel- und Osteuropa. Von Agnes Kern

Den Titel Kulturhauptstadt, den der Ministerrat der EU jährlich an zwei EU-Länder vergibt, erhält eine Stadt hauptsächlich aufgrund ihrer Konzepte, die den Evaluierungskriterien für Kulturhauptstädte entsprechen müssen und von einer Expertenjury bewertet werden. Unter anderem muss jede Stadt, die sich bewirbt, die Maßnahmen zur Förderung der Sensibilisierung in Bezug auf das Kulturgut sowie das stadtspezifische kulturelle Schaffen nachweisen. Die begehrte Auszeichnung soll ein besseres Verständnis der Europäer füreinander schaffen, die Wirtschaft ankurbeln und zu einem Ausbau städtischer Infrastruktur führen.

 

Marseille hat sich für ihr Jahr als Kulturhauptstadt viel vorgenommen. Die krisengeschüttelte Hafen- und Industriemetropole nutzt den Titel, um durch neue Impulse im Bereich der Kultur den Strukturwandel der Stadt zu beschleunigen und den Tourismus neu zu gestalten. Für den Marseiller Bürgermeister, Jean-Claude Gaudin, der seit 1995 auf den Titel hinarbeitet, gibt es keine wirtschaftliche Entwicklung ohne kulturellen Fortschritt. Diese Kombination ist unabdingbar für Tourismus auf hohem Niveau. Kultur verbindet die Menschen über die Stadt und die Region, aber auch über die Generationen hinweg.Der frühere Präsident der Region Marseille-Provence, Bernard Latarjet, argumentierte bei der Bewerbung: Marseille, die arme, verschuldete Stadt, sei die Stadt, die diesen Titel am dringendsten benötige. Unterversorgt an kulturellen und touristischen Einrichtungen brauche Marseille den Titel insbesondere aus sozialen, aber auch Stadtmarketing-Gründen.

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Marseille: Wie ein Sprungbrett sieht die von Stefano Boeri erbaute Villa Méditerranée, das internationale Zentrum für Dialog und Zusammenarbeit im Mittelmeerraum, aus. 

Bildnachweis: Paul Ladouce

Wirtschaftsmotor

Als großes Beispiel diente hier Lille, Kulturhauptstadt 2004: Dort konnten die Touristenzahlen um zehn, die Arbeitsplätze im Bereich Handel, Hotellerie und Gastronomie um sieben Prozent erhöht werden. In den letzten Jahren wurden die Nächtigungskapazitäten in Marseille fast verdoppelt und die des Kreuzfahrtterminals verzehnfacht, um den für 2013 erwarteten, zusätzlichen 1,5 Mio. Besuchern gerecht werden zu können. Die Organisatoren erwarten, dass jeder Euro sechs weitere an Umsatz bringt und langfristig die Stadtmarke „Marseille“ festigt. In rund 60 Bauprojekte von renommierten internationalen Architekten wurden 660 Millionen Euro investiert. In einem gewaltigen Stadtentwicklungsprojekt wurde das ganze Areal zwischen dem alten Industriehafen und dem heruntergekommenen Bahnhofsviertel neu konzipiert. Zahlreiche neue Bauten wurden errichtet, alte renoviert und umgebaut, wie etwa das Museum für europäische und mediterrane Kulturen oder die alte Tabakfabrik „Friche de la Belle de Mai“, die auf 40.000 m2 moderner Kunst ein neues Zuhause bietet. Aber die Projekte betreffen nicht nur die Stadt selbst. Viele umliegende Städte wie Aix-en-Provence, Arles, Salon de Provence und La Ciotat wurden miteinbezogen – und ein Programm abwechslungsreicher, innovativer Projekte geschaffen. Fast 100 Millionen Euro wurden in rund 500 verschiedene Kulturevents investiert, die bis Jahresende in der gesamten Region stattfinden. Eine Vielfalt an Ausstellungen, Musik-, Literatur- und Lyrikfestivals, Straßen- und Open-Air-Events erwarten die Besucher.

Premiere

Die weitaus kleinere Stadt Košice im Osten der Slowakei steht vor ihrem bisher größten Kulturprojekt. Es ist das erste Mal, dass eine slowakische Stadt zur Europäischen Kulturhauptstadt ernannt wurde. Die Initiatoren erwarten auch hier frische kulturelle und wirtschaftliche Impulse. Insgesamt wurden 70 Millionen Euro investiert, mehrere hunderttausend Besucher aus dem In- und Ausland werden erwartet. Organisationschef Jan Sudzina zeigt sich bisher zufrieden. Eine kreative IT-Industrie hat bereits Fuß gefasst und 6.000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Er hofft, dass der Titel der Europäischen Kulturhauptstadt die kleinen und mittleren Unternehmen stärken und die Stadt von den zusätzlichen Touristen profitieren wird.

Kreativitätszentrum

Košice möchte sich langfristig „transformieren“: von der Stadt der Stahlindustrie zu einem Zentrum der Kultur und Kreativität. Zahlreiche Bauten wurden zweckentfremdet umgestaltet: Aus einem 30 Jahre lang geschlossenen Schwimmbad wurde eine Kunsthalle, aus einer stillgelegten Fabrik ein Kulturzentrum. Insbesondere möchte man die Stadt aber mit den diversen Events in der internationalen Kulturszene etablieren.

Das Bürgerbeteiligungsprojekt „Interface“, dem Košice den Titel als Kulturhauptstadt verdankt, versteht sich als neue europäische Plattform für einen regen Kulturaustausch, wo innovative Ideen und Projekte präsentiert werden. Eines der Schlüsselprojekte ist „SPOTs“, in dessen Rahmen viele ungenutzte Verteilerstationen des Fernwärmenetzes der Stadt als Kulturzentren der einzelnen Stadtteile genutzt werden.

Das Programm ist bunt: Die Eröffnung des Kulturjahres mit einem aufwändigen „Weltallprogramm“ und einer gewaltigen Lasershow wurde von Künstlern und Publikum begeistert aufgenommen. Die Besucher erwarten zahlreiche Ausstellungen slowakischer Gegenwartskunst, ebenso ein Festival jüdischer Kultur im Sommer oder das erste professionell betriebene Roma-Theater, das an das Roma-Erbe der Stadt anknüpft.

Der Herbst wird ganz im Zeichen des Jazz stehen. Mehrere Projekte erinnern an die osteuropäische Vergangenheit des Pop-Art-Künstlers Andy Warhol und den aus der Gegend stammenden, ungarischen Schriftsteller Sándor Márai, dessen Werke anlässlich des Kulturjahres neu verlegt werden. Ein multikulturelles Programm in einer multikulturellen Stadt, deren Bewohner und Stadtväter hoffen, dass das positive Echo des Kulturjahres noch lange Zeit widerhallen wird.