Gernot Reismann hat eine neongelbe Signalweste angezogen, den Schutzhelm aufgesetzt und die Stirnlampe angeschaltet. Gut gesichert führt der gebürtige Österreicher eine Besuchergruppe. Mitten im Zentrum Stockholms tut sich eine gewaltige Baugrube auf.
Von Agnes Bührig, Stockholm
Unter Tage, im gleißenden Licht der Scheinwerfer, machen sich hier riesige Baumaschinen zu schaffen. Über der Erde findet unterdessen das pralle Leben statt. Deshalb dürfen die Bauarbeiten nur von 7 bis 19 Uhr durchgeführt werden. Und einige historische Häuser – wie das altehrwürdige Witwenheim Oscars I. von 1875 – werden mit einer Stahlkonstruktion besonders gesichert, sagt der Ingenieur: „Das Gebäude stand zunächst auf Stahlstützen – einige hundert Stück, auf das gesamte Gebäude verteilt. Die eigentliche Grundmauer des Fundamentes, diese Granitmauer hier über uns, wurde abgesägt und weggerissen und wird jetzt nach und nach durch eine feste Stahlkonstruktion ersetzt.“
Reismann arbeitet am Jahrhundert-Bauprojekt „Citybanan“ mit, das Schwedens Hauptstadt Stockholm vor dem drohenden Verkehrsinfarkt bewahren soll. Errichtet wird eine etwa sechs Kilometer lange Bahntrasse, parallel zu den existierenden Gleisen. Sie reicht einmal quer durch die City und muss dabei durch massiven Fels und unter dem Wasser des Riddarfjärden hindurch. Eine besondere Herausforderung sind die historischen Stadtteile wie die Altstadt. Unter ihnen muss besonders vorsichtig gesprengt werden, um nicht Kulturdenkmäler wie die mittelalterliche Klosterkirche Riddarholmskyrkan zu beschädigen. Unweit der bereits existierenden Strecke werden zudem zwei neue Bahnstationen gebaut. Und das sei auch dringend notwendig, sagt Gernot Reismann: „Die „Citybanan“ ist eigentlich eine Reaktion auf einen Zustand, der schon vor langer Zeit hätte gelöst werden sollen. Man hat es hier in Stockholm in den letzten 20, 30 Jahren versäumt, in den Schienenverkehr zu investieren. Das hat sich zugespitzt. Die Reisenden leiden tagtäglich darunter und bekommen es mit Pannen, Engpässen und dem Sperren von Schienenstrecken zu tun.“
Wespentaille entlastet
Stockholm verteilt sich auf 14 Inseln. Alljährlich wächst die Metropole um 40.000 Neubürger. Bereits heute sind die Verkehrsströme ein logistischer Alptraum – alles zwängt sich über Brücken und durch Tunnel. Die südliche Ausfahrt aus der schwedischen Hauptstadt ist bei steigendem Verkehrsaufkommen zum Flaschenhals geworden. Hier rollen Fernbahn, S-Bahn und Schnellzüge auf gerade einmal zwei Gleisen. 550 Züge am Tag. Eine weitere zweigleisige Trasse ist mehr als überfällig, denn alle Wege führen über Stockholm. Und wer im Land per Bahn von Nord nach Süd reisen will – oder umgekehrt –, muss durch dieses Nadelöhr, das auch den Namen „Wespentaille“ trägt. Die Strecke sei aber nicht nur wichtig, um Stockholm vor dem Verkehrsinfarkt zu bewahren, sagt Tom Arnbom, Sprecher bei der Umweltorganisation WWF in Schweden: „Man kommt mit dem Zug schneller durch die Stadt. Das führt dann vielleicht dazu, dass weniger Menschen das Auto nehmen. Sowohl was die Arbeitspendler betrifft als auch die Menschen auf der Durchreise. Deshalb halte ich es für sehr wichtig, dass man die Infrastruktur für den lokalen Verkehr ausbaut. Ständig steigende Autozahlen kann unsere Gesellschaft nicht verkraften.“
Mit österreichischem Know-how
Und so graben sie sich durch das nordische Gestein. Der erste Spatenstich wurde 2009 gesetzt, in vier Jahren soll alles fertig sein. Kostenpunkt für den schwedischen Steuerzahler: umgerechnet 2,6 Milliarden Euro. Ein Geschäft auch für Konzerne aus dem Ausland, die zunehmend auf dem skandinavischen Hoffnungsmarkt Fuß fassen. Österreicher sind wegen ihrer Erfahrungen im Spezialtiefbau weltweit gefragt. In Stockholm helfen sie, im Riddarfjärden Senktunnel zu setzen und massives Granitgestein zu sprengen, sagt Gernot Reismann: „Der skandinavische Markt ist in den letzten Jahren für viele europäische Unternehmen interessant geworden. Der Vorteil für den schwedischen Steuerzahler ist, dass ausländische Firmen über Techniken verfügen, die bisher in Schweden weniger zum Einsatz kamen. Diese neuen Technologien verbilligen viele Infrastrukturprojekte. Daher gibt es in Schweden Initiativen, ausländische Akteure ins Land zu holen.“
Sensible Schwerstarbeit
Im Tunnel unter Södermalm hat die Besuchsgruppe inzwischen eine recht feuchte Stelle erreicht. Kein Wunder, im Untergrund unweit der Baustelle ziehen sich Versorgungsrohre und Kanäle durchs Gestein. Jörg Geisberg von einer der beteiligten österreichischen Baufirmen zeigt auf einer Karte den Verlauf eines Abwasserkanals.
Weil man schwer abschätzen konnte, wie dicht er ist, griff man in Bezug auf möglicherweise austretende Keime auf eine besondere Maßnahme zurück: „Der Kanal ist eigentlich ein Freispiegelkanal, der viel Wasser führt, Oberflächenwasser ist da auch drin. Er kann unter Überdruck stehen. Das waren verschärfte Bedingungen für die gesamte Mannschaft, wir haben uns daraufhin alle einem Impfprogramm unterzogen“, sagt der Ingenieur.
Bevor hier 2017 die ersten Züge rollen, wird noch etliches Wasser durch die Abwasserkanäle von Stockholm rauschen. Und hoffentlich in Zukunft zu weniger eingestellten Vorortzügen führen, sagt eine der Teilnehmerinnen der Besuchsgruppe am Ende der Führung. Sie hat den Aufenthalt im Untergrund genossen: „Man hört so viel in Stockholm von der Citybanan, schon seit Jahren, jetzt weiß man etwas mehr.“ Eine Frau an ihrer Seite pflichtet ihr bei: „Hier unten zu sein ist sehr beeindruckend. Das ist ja eine phantastische Arbeit, einerseits so gewaltig und andererseits so heikel.“