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Where the streets have no name

Die Gemeinden wachsen. Dabei stehen sie immer wieder vor der Herausforderung, die neuen Siedlungen ins bestehende System von Straßennamen und Hausnummern zu integrieren. Manchmal müssen ganze Straßenzüge neu benannt werden – und das ist eine heikle Sache.
Von Monika Hasleder

In Lasberg bei Freistadt hatte schließlich nur noch der Briefträger den Überblick. Die kleine Gemeinde im Mühlviertel war in den vergangenen Jahren stetig gewachsen. Häuser wurden gebaut, ausgebaut, umgebaut. Die Nummerierung erfolgte chronologisch, was mit der Zeit zu einem heillosen Durcheinander führte. Es war klar: Hier muss etwas getan werden.

Übersichtlich und logisch

Ein einheitliches Adresssystem erleichtert nicht nur die Arbeit der Briefträger – im Ernstfall kann es sogar Leben retten. Auch im Zeitalter von GPS und mobilen Navigationsgeräten bleiben Straßennamen und Hausnummern wichtige Anhaltspunkte für Einsatzkräfte wie Rettung und Feuerwehr. „Wir arbeiten mit GPS-Datenpaketen, die direkt ans Einsatzfahrzeug übermittelt werden“, erklärt Stefan Neubauer vom Roten Kreuz Oberösterreich. Allerdings sind noch nicht alle Regionen geokodiert – und stehen mehrere Häuser eng beieinander, ist die Hausnummer nach wie vor der wichtigste Orientierungspunkt.

Meine Straße, mein Zuhause

Eine Adresse ist mehr als bloß der Name auf einem Straßenschild, sie steht für Heimat und Zugehörigkeit. In hunderte Dokumente eingetragen, wird sie – gleich nach dem eigenen Namen – zu einem Stück Identität. Darum kann die Umstellung auf eine neue Adresse Schwierigkeiten bereiten. Hier gilt es, die Bürgerinnen und Bürger von den Vorteilen einer klaren Adressierung zu überzeugen und gemeinsam neue Lösungen zu erarbeiten. „Wir haben von Anfang an die Bevölkerung eingebunden. Jeder konnte Vorschläge für neue Straßennamen machen – und so ist es uns gelungen, dass sich jeder mit der neuen Adresse identifizieren kann“, freut sich Leopold Stütz, Vizebürgermeister von Lasberg. Alles war möglich: Flurnamen, Pflanzen, wichtige Punkte – nur Namen von Personen und Politikern wurden von vornherein ausgeschlossen. Damit liegen die Lasberger im gesamtösterreichischen Trend.

Statistik der Straßennamen

So wie die Adresse zu einem Teil der persönlichen Identität wird, kann man aus der Gesamtheit aller Namen für öffentliche Straßen und Plätze Rückschlüsse auf die kollektive Identität ziehen: Worauf ist man hierzulande stolz, woran möchte man sich erinnern, was herzeigen? Aus der Statistik ergibt sich ein Land, in dem Rosen blühen, Amseln zwitschern und die Sonne scheint. Am häufigsten werden Plätze und Straßen nach wichtigen Punkten benannt, etwa dem Bahnhof, der Schule, der Kirche, dem Marktplatz. Darüber hinaus gibt es österreichweit über 200 Straßen, die den Namen eines der Begründer einer bekannten Genossenschaftsbewegung aus dem 19. Jahrhundert tragen. Heute wird der Name wohl eher der Bankengruppe zugeordnet: Raiffeisen. Namensbildungen mit Berg, Brunnen, Feld und Sonne zeigen ein harmonisches Naturbild, genau wie die zahlreichen Straßen, die nach Bäumen, Blumen und Tieren benannt wurden.

Auch historische Persönlichkeiten tummeln sich in Österreichs Straßen, die meisten von ihnen Künstler und Wissenschaftler. Ganze 165 Straßen erinnern an Wolfgang Amadeus Mozart – fast doppelt so viele wie an seinen Kollegen Ludwig van Beethoven. Politiker sind eher dünn gesät – am liebsten erinnert sich Österreich noch an Dr. Karl Renner und Kaiser Franz Joseph.

Spiegel der Geschichte

Grundsätzlich werden Straßen meist nach toten Menschen benannt. Und welche für würdig befunden werden, ins kollektive Gedächtnis als Straße oder Platz einzugehen, das spiegelt den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs und den Grad der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit wider. In vielen Gemeinden werden Straßennamen, die jahrzehntelang selbstverständlich waren, neu diskutiert – wie in Frättingsdorf bei Mistelbach: Anton Haas hatte sich in den 1930er- und 1940er-Jahren Verdienste als Dorflehrer erworben, eine Straße wurde nach ihm benannt. Vor kurzem wurde bekannt, dass er bereits 1932 einen Aufnahmeantrag an die – noch verbotene – NSDAP gestellt hatte. War er nun ein glühender Nazi oder doch nicht sonderlich engagiert? Die Archive geben darüber keine genauere Auskunft. Die Frättingsdorfer müssen nun selbst entscheiden, ob sie weiterhin in einer nach ihm benannten Straße leben möchten – mit einer Bürgerbefragung Ende November.

Manhattan an der Ybbs

In Kematen an der Ybbs ging man 1967 ganz eigene Wege: Im Zuge der Zusammenlegung zweier Katastralgemeinden stand man vor der Aufgabe, viele Straßen neu zu benennen. Angeblich waren zwei Gemeinderäte kurz davor in New York gewesen und machten den Vorschlag, das amerikanische System nach Kematen an der Ybbs zu importieren. So wird es kolportiert. Ob ein New-York-Besuch oder der Flächenwidmungsplan, der damals erstellt wurde, der Idee zugrunde liegt – sie wurde gut aufgenommen. Und deshalb kann man es durchaus wörtlich nehmen, wenn man nun, auf die Frage nach dem Weg, in die „2. Querstraße“ geschickt wird. Statt Straßennamen eine Straßennummerierung – das ist einzigartig in Österreich und „wahrscheinlich sogar in ganz Europa“, so die Auskunft am Gemeindeamt.

Ob politisch oder praktisch motiviert – eine Umbenennung ist für die Bürger mit einigen Unannehmlichkeiten verbunden: die Montage der neuen Hausnummer, die Meldung an verschiedenste Einrichtungen, vom Arbeitgeber bis zur Zulassungsstelle. „Dabei haben wir versucht, den Aufwand für den Einzelnen zu vermindern, indem zum Beispiel die Pensionsversicherungsanstalten unsererseits von der Adressänderung informiert wurden“, erzählt der Lasberger Vizebürgermeister.

Und der Aufwand lohnt sich schließlich: Spätestens dann, wenn Gäste auf der Suche nach der richtigen Hausnummer nicht mehr kreuz und quer durch den Ort irren, wenn der Lieferservice auf Anhieb zum Haus findet – und wenn der Briefträger einmal ruhigen Gewissens auf Urlaub gehen kann.