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Politiklabor und Diamanten

Antwerpen ist das ökonomische Herz Flanderns. Zugleich ist die Stadt Experimentierfeld der Politik. Hier wurden die flämischen Grünen ebenso gegründet wie der rechtsextreme Vlaams Belang. Hier entscheidet sich vielleicht die Zukunft der rechtsliberalen N-VA. Ihr Vorsitzender Bart De Wever, Flanderns populärster Politiker und Befürworter der flämischen Unabhängigkeit, will im Oktober 2014 in Antwerpen Bürgermeister werden.
Von Christoph Nick, Antwerpen

Wer wissen will, wie es um die globale Wirtschaft und die europäische Konjunktur steht, muss sich nur auf den Autobahnring um Antwerpen begeben und die Lastwagen zählen. 2009 ging der Verkehr deutlich zurück, seit 2011 rollt er wieder. Das Ziel der meisten LKWs ist der Hafen von Antwerpen, der mit Hamburg immer um den zweiten Platz in der europäischen Rangliste wetteifert – und das Rückgrat der lokalen und regionalen Wirtschaft bildet. Auf dem Hafengebiet sind auch etliche Produktionsanlagen angesiedelt. Fast 150.000 Menschen arbeiten direkt oder indirekt im oder für den Hafen.

Wirtschaftskraft

Seit 1979 ist die Hafengesellschaft eine unabhängige Gesellschaft im Besitz der Stadt. Zehn Prozent des Jahresgewinns werden als Dividende an den Stadtsäckel ausgeschüttet. Der Hafen steht in scharfer globaler Konkurrenz und strengt sich entsprechend an. Im Februar dieses Jahres hat er als erster Hafen weltweit einen Nachhaltigkeitsbericht vorgelegt. Angestoßen durch die Wirtschaftskrise wollte man sich international besser positionieren. Unter den drei Kapitelüberschriften People, Planet und Profit werden Ausrichtung und zukünftige Entwicklung des Hafens durchdekliniert. Auch für die österreichische Wirtschaft ist der Hafen wichtig. Allein vom Wiener Hafen Freudenau fahren seit Dezember 2011 täglich 3 – 5 Güterzüge nach Antwerpen.

Das zweite wirtschaftliche Standbein ist der Antwerpener Diamantenhandel. Mit etwa 1.500 Firmen verfügt die Stadt nach wie vor über die höchste Konzentration von Unternehmen in diesem Sektor. Dazu gehören Produzenten von Rohdiamanten, Händler, Diamantenschleifer, Diamantenbanken, Versicherer sowie Forschung und Entwicklung. 80 Prozent aller weltweit produzierten Rohdiamanten und 50 Prozent aller polierten Diamanten gehen durch Antwerpener Hände.

Die Kreativwirtschaft ist das dritte wirtschaftliche Standbein Antwerpens, in der Mode eine große Rolle spielt. Absolventen der Antwerpener Königlichen Akademie der Schönen Künste haben sich 1980/81 als „Antwerpener Sechs“ weltweit einen Namen in der Modeszene gemacht. Einer ihrer Schüler, der Belgier Raf Simons, ist gerade zum neuen Kreativdirektor von Dior berufen worden. Von 2000 bis 2005 leitete er die Mode-Meisterklasse der Wiener Universität für angewandte Kunst.

Autonomie für Flandern?

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Port of Antwerp,Fast 190 Millionen Tonnen Frachten wurden im vorigen Jahr im riesigen Hafen Antwerpens, dem drittgrößten Europas, umgeschlagen.
Hafen, Diamanten und Kreativwirtschaft haben aus Antwerpen eine kosmopolitische Stadt gemacht. Als Gegenreaktion auf Einwanderung und Alimentation der nach dem Ende der Montanindustrie wirtschaftlich geschwächten französischsprachigen Wallonie hat sich hier 1979 der rechtsextremistische Vlaams Blok gegründet. Als 2004 ein Verbot drohte, löste er sich auf und erstand als Vlaams Belang neu. Bei den letzten Kommunalwahlen 2006 wurde dieser nach den Sozialdemokraten zweitstärkste Fraktion. Seitdem geht es mit der Zustimmung der Wähler stetig bergab. Hauptgrund dafür ist die Neue Flämische Allianz (N-VA). Die N-VA ist eine rechtsliberale, demokratische Partei unter der Führung des charismatischen Bart De Wever. Sie strebt langfristig die flämische Unabhängigkeit an. In den nationalen Wahlen von 2010 wurde die N-VA erstmals stärkste Partei. Ihre mangelnde Kompromissfähigkeit war der Hauptgrund dafür, warum die Belgier über 500 Tage für ihre Regierungsbildung gebraucht haben. Am 21. April musste Bart De Wever eine schwere Entscheidung treffen. Auf einem Parteitag sollte er bekannt geben, ob er der Spitzenkandidat seiner Partei für die Antwerpener Kommunalwahlen am 14. Oktober werden wollte. Damit wäre er automatisch auch Bürgermeisterkandidat, denn die belgischen Bürgermeister werden von den Stadt- und Gemeinderäten gewählt.

Alle Medien spekulierten im Vorfeld darüber, wie er sich wohl entscheiden würde, denn es galt als ausgeschlossen, dass De Wever als Antwerpener Bürgermeister bei den nächsten Regionalwahlen als flämischer Ministerpräsident antreten könnte. Zurzeit liegt die N-VA in Flandern in Umfragen bei 40 Prozent. Ein Erfolg oder Misserfolg in Antwerpen könnte den rasanten Aufschwung der N-VA, der den anderen Parteien unheimlich ist, bremsen oder weiter beflügeln. Je nach Sichtweise und Politik hängt die Existenz Belgiens am Wahlerfolg Bart De Wevers.

 

Weitreichender Einfluss

De Wever, der aktuell als einziger Vertreter seiner Partei im Antwerpener Stadtrat sitzt, hat wieder einmal überrascht und die Spitzenkandidatur ohne Wenn und Aber übernommen und erklärt, dass er auch Bürgermeister werden wolle. Eine Koalition mit dem Vlaams Belang schloss er aus, solange der von Filip Dewinter, einem Hardliner, geführt werde. Die moderaten Wähler rief er auf, für ihn und die N-VA zu stimmen. Filip Dewinter erklärte daraufhin, er könne auch zurücktreten und einer gemäßigteren Politikerin Platz machen, wenn davon eine Koalition abhänge. Mit Spannung blickt jetzt das ganze Land auf den kommenden Wahlkampf und das Wahlergebnis. Schlagen muss De Wever den populären Sozialdemokraten Patrick Janssens, dessen Politik in der Mitte angesiedelt ist. Er ist für die nächste Wahl eine Liste mit den Christdemokraten eingegangen, um der N-VA Einhalt zu gebieten. Das ist nach belgischem Wahlrecht möglich. Die Christdemokraten sind von ihrem einstigen Juniorpartner N-VA so geschwächt, dass sie in Antwerpen nur noch mit fünf Prozent gehandelt werden. Bart De Wever ist nach allen Seiten offen. Er kann sich auch eine Zusammenarbeit mit Janssens vorstellen, vorausgesetzt, er wird der Chef. Wie auch immer die Wahl im Oktober ausgeht, das Ergebnis wird nicht nur Antwerpens Schicksal bestimmen, sondern auch großen Einfluss auf die politische Landschaft Flanderns und Belgiens haben.