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Phönix aus der Asche

Lille, größte Stadt in Frankreichs Norden, lag 1980 am Boden. Das einstige Zentrum von Textil- und Schwerindustrie mit einem Kohlegürtel südlich der Stadt musste einen radikalen Strukturwandel vollziehen und sich völlig neu erfinden. Der Wiederaufstieg ist gelungen. Heute gehört Lille mit Paris und Lyon zu den drei großen Wirtschaftsmetropolen Frankreichs.
Von Christoph Nick, Lille/Frankreich

Lille ist die größte Stadt der Region Nord-Pas-De Calais im Norden Frankreichs. Einem größeren Publikum bekannt geworden ist der Landstrich 2008 durch die erfolgreiche Kinokomödie „Willkommen bei den Sch’tis“, die sich mit den kulturellen Unterschieden zwischen Nord- und Südfrankreich auseinandersetzt. In Frankreich hält der Film den absoluten Besucherrekord, in Österreich wurde er von fast 150.000 Besuchern gesehen.

Krisengebeutelt

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Bildnachweis: Daniel Rapaich Lille

Fröhliche Riesentulpen im Stadtteil Euralille: Les tulipes de Shangri-La, eine Skulptur von Yayoi Kusama, der japanischen Pop-Art-Künstlerin.

„Uns wurde nichts geschenkt“, sagt Pierre de Saintignon, stellvertretender Bürgermeister von Lille.

Er hat damit recht – und das über viele Jahrhunderte. Schon im Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich im 14. und 15. Jahrhundert und in vielen Kriegen danach wurde die Region immer wieder verwüstet. Auch vom Ersten Weltkrieg war man schwer betroffen. Wieder aufstehen, wenn man hingefallen ist, hat Tradition in Frankreichs Norden. Nach 1970 verlor die Region um Lille über 300.000 Arbeitsplätze. Der Wiederaufstieg begann, wie so oft in Frankreich, das einer kapitalistischen Planwirtschaft huldigt, mit einer großen Idee und einem großen Mann.

Umschwung durch TGV

Pierre Mauroy, ein Sozialist, wurde 1973 Bürgermeister von Lille. Er war ein politisches Schwergewicht und Vertrauter von François Mitterand, dessen erster Premierminister er 1981 wurde. Wie in Frankreich üblich, behielt er seinen Posten als Bürgermeister von Lille. Bestens platziert konnte er seine Idee, dass Lille einen Bahnhof für die neuen Superschnellzüge Frankreichs bekommen solle, durchsetzen. Der Bau des Eurotunnels machte die Stadt, die inmitten des Dreiecks Paris, London und Brüssel liegt, endgültig zu einem internationalen Verkehrsknotenpunkt.

Damit Lille aber den TGV-Bahnhof bekommen konnte, musste ein weiteres Leuchtturmprojekt her. Einfach nur einen TGV-Bahnhof als Zwischenstopp bauen, so etwas tut man in Frankreich nicht.

So entstand die Idee für Euralille, ein völlig neues Wohn- und Geschäftsviertel. Neben La Défense in Paris und La Part-Dieu in Lyon ist Euralille das wichtigste Viertel dieser Art in Frankreich. Pierre Mauroy setzte mit Euralille und dem TGV auf internationale Geschäfte und den tertiären Sektor.

Lille hatte seinerzeit keinen Sous übrig, um Euralille zu bauen. Der Stadt standen aber große Flächen durch den Niedergang der alten Industrien zur Verfügung. Diese konnten nun als „Eigenkapital“ für das Projekt eingesetzt werden. 1994 waren Euralille und der TGV-Anschluss Wirklichkeit geworden.

Mauroys Strategie hat sich ausgezahlt. Geholfen hat die geografische Lage von Lille. London ist in 120, Paris in 60 und Brüssel in 25 Minuten zu erreichen. In einem Umkreis von 300 km leben fast 80 Millionen Menschen. Pierre de Saintignon zitiert eine Studie, nach der das Konsumpotenzial in diesem Umkreis bei 1.500 Milliarden Euro liegt. Damit sei die Stadt in dieser Disziplin erste in Frankreich und global dritte hinter Köln und Tokio – und liege noch vor Shanghai und New York. Wegen der vielen alten Industriebranchen, die nach und nach wieder entwickelt werden, sind die Mietpreise für Gewerbeflächen in Lille relativ günstig. Mittlerweile gibt es 15 Hauptsitze internationaler Firmen und über 70 Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern.

Politische Weitsicht

Voraussetzung für diesen Erfolg – neben der Geografie – war und ist die Politik in Lille und der Region. Pierre Mauroy setzte vor allem auf den Ausbau der Infrastruktur und des Dienstleistungssektors. Seit 2001 ist Martine Aubry Bürgermeisterin von Lille. Die ehemalige Wirtschaftsministerin unter Lionel Jospin und heutige Vorsitzende der sozialistischen Partei Frankreichs erweiterte das Programm ihres Vorgängers um die Förderung von Forschung und Entwicklung und setzte darüber hinaus stark auf Kultur. 2004 war Lille Kulturhauptstadt der Europäischen Union und wurde vom Ansturm von Millionen Besuchern förmlich überrollt. Mit Lille 3000 und dem Motto ‚Die Reise geht weiter‘ haben Martine Aubry und ihre Mannschaft ein Folgeprojekt ins Leben gerufen, das die Welt und ihre Kulturen in Lille präsentieren will. 2009 gab es zum Beispiel im Rahmen von Lille 3000 und unter dem Titel „Europe XXL“ vier Monate lang Ausstellungen, Konzerte und vieles mehr zu Osteuropa.

Mit vereinten Kräften

Pierre de Saintignon benennt die enge Zusammenarbeit von Stadt, Region, Unternehmern, Universitäten und Zivilgesellschaften als das große Geheimnis des Erfolges von Lille. Dazu gehört auch, dass die Bürger nicht vergessen werden. Für den Posten Sozialpolitik und Solidarität gibt die Stadt heute 46 Prozent ihres Budgets aus, dazu kommen 35 Prozent für sozialen Wohnungsbau und Stadtentwicklung. Hier konzentriert man sich zurzeit darauf, alte Viertel zu ökologischen Vorzeigevierteln zu sanieren und die Gewässer der Stadt (der Name Lille bedeutet ‚die Insel‘) wieder zu einem Teil des städtischen Lebensraumes zu machen. Die Kompetenzen für Wirtschaft und Arbeit liegen offiziell bei den Regionen, aber die Stadt engagiert sich auch hier mit Millionenbeträgen. Pierre de Saintignon betont, dass die internationale Präsentation der Region Lille für den Erfolg der Unternehmen enorm wichtig sei. Lille Métrople, so der Name des Großraums, habe sich zum Beispiel an der Weltausstellung in Shanghai beteiligt. Auf den Lorbeeren ausruhen will sich die Region nicht. Denn in Lille und Nord-Pas-De Calais weiß man zu gut, wie schnell man alles wieder verlieren kann.