wirtschaft politik service

Kampf den Treppen-Höllen

Spätestens 2019 müssen alle Ämter barrierefrei erreichbar sein. Erst ein Blick durch Rollstuhlfahrers Brille zeigt, wie unüberwindbar viele Hürden sind. Und welche Herausforderungen noch auf die Gemeinden warten.
Von Alexandra Keller

Das Auge schläft, bis es der Geist mit einer Frage weckt. Wie wahr das ist, stellt fest, wer aufmerksam durch seine Stadt oder seine Gemeinde geht und dabei daran denkt, wie es wohl für einen gehbehinderten Menschen wäre, – für jemanden, der im Rollstuhl sitzt. Da geht es eben nicht, rasch die Straßenseite zu wechseln, weil jeder Gehsteig bis zur nächsten Kreuzung oder zumindest bis zur nächsten abgeschrägten Hauseinfahrt „ausgerollt“ werden muss. Steht dann ausgerechnet dort das Auto eines auf der Suche nach dem schnellen Parkplatz faul Gewordenen, heißt es: weiterrollen sowie hoffen, dass der Parksünder bestraft wird und danach auch weiß warum.

Freunde in Altbauwohnungen ohne Lift zu besuchen, geht nicht. Es sei denn, die Freunde sind derart durchtrainiert, geschickt und stark, dass sie den Gast samt Rollstuhl ohne Probleme zwei, drei Stockwerke hinaufhieven und wieder hinuntertragen können. Dass es unmöglich ist, in solchen Häusern zu wohnen, versteht sich von selbst. Die Bar im Keller, das Café am Turm – nix geht. Wenn dann, enttäuscht auf dem Heimweg, auch noch der Ticket-Automat, der Scheine für öffentliche Verkehrsmittel ausspuckt, so hoch angebracht ist, dass der Bildschirm vom Rollstuhl aus in unerreichbarer Ferne flackert, wird allmählich klar, wie hoch die Frustrationsgrenze für Menschen, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, sein muss.

Als hätten sie es nicht schwer genug.

Ansehen und nachspüren

Den bewussten Gang über Stock und Stein und das allseits präsente Stufenmeer kann man später, im Sessel lehnend, filmisch Revue passieren lassen. Im Oktober 2011 machte sich das Team von InntalTV auf den Weg durch Hall in Tirol. Zwei Rollstuhlfahrer wurden durch die mittelalterliche Stadt begleitet, deren Häuser so alt sind wie schön und die aufgrund ihrer teils abenteuerlichen Ein- und Stiegengänge auf Gehbehinderte wie der Himalaya wirken müssen.




hall

Im wirklichen Leben häufig immer noch ganz anders:
„Menschen mit Behinderungen sollen selbstständig
denselben Gebäudeeingang benützen können wie
Menschen ohne Behinderung.“


Für Volker Schönwiese und Christine Riegler, beide an elektrische Rollstühle gebunden – besser auf sie angewiesen, beginnt die Rundfahrt schon holprig. Um die abgeschrägte Verbindung zwischen Straße und Gehsteig zu überwinden, braucht Schönwiese entweder schnellen Anlauf oder Hilfe und vor einem Feinkostgeschäft in der Haller Altstadt ist erst einmal Schluss. Eine zu hohe Stufe macht es ihm unmöglich, dort einzukaufen, und er sagt: „Wenn ich eine Wurstsemmel will, muss ich jemanden hineinschicken oder herauswinken.“ Weiter geht’s zu einem anderen Geschäft, wo gleich zwei Stufen ein „normales“ Einkaufen unmöglich machen, und Schönwiese, der als Wissenschaftler weithin bekannt und – wie Christine Riegler – Vorstandsmitglied der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben ist (www.selbstbestimmt-leben.net), stellt fest, dass es architektonisch leicht wäre, die Stufen überwindbar zu machen. Die Frage sei, was die Stadt erlaube und was das Denkmalamt zulasse. Als normaler Kunde fühlt er sich erst in einem ebenerdig zugänglichen Bekleidungsgeschäft oder in der barrierefrei renovierten Stadtapotheke. Dass ihm und Frau Riegler lediglich ein einziges Café einfällt, in dem sie – ohne Hindernisse überwinden zu müssen – einen Cappuccino trinken können, macht die Tristesse für die Zuschauer perfekt.



Hall – eine Stadt für alle?




Was für Geschäfte gilt, Verkehrswege, Restaurants oder Bars, gilt selbstverständlich doppelt für öffentliche Gebäude – ohne entsprechende barrierefreie Gestaltung bleiben die Ämter und Behörden für beeinträchtigte Menschen verschlossen. Die Stadt Hall in Tirol ist ein gutes Beispiel. Nicht, weil es ihr an Willen fehlt, die Stadt barrierefrei zu machen, sondern etwa das schmucke und geschichtsträchtige Rathaus geradezu vor Stufen strotzt, deshalb dem Eintritt durch gehbehinderte Menschen trotzt und allein dort nachvollziehbar wird, wie hoch die Kosten dafür sind, das Haus barrierefrei zu gestalten. Nur mit einem Glaslift im Hof lassen sich die Vorgaben erfüllen. Die Salzstadt rechnet diesbezüglich in Millionen-Dimensionen, doch selbst, wenn die Finanzierung noch völlig ungewiss ist, muss sich der Gemeinderat rasch damit auseinandersetzen. Denn die Uhr tickt."


Lange Fristen für Betroffene
Am 1. Jänner 2006 trat das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft, mit dem nicht nur  festgehalten wurde, dass bauliche Barrieren diskriminierend sind, sondern auch vorgeschrieben wurde, dass bis 2016 alle Barrieren bei öffentlich zugänglichen Gebäuden, Verkehrsanlagen und in öffentlichen Verkehrsmitteln beseitigt sein müssen. In den Übergangsbestimmungen ist vorgesehen, dass diese Frist mit guter Begründung weiter erstreckt werden kann.
Zwischenzeitlich hat der Bund, begleitet von einem nachvollziehbaren Aufschrei der Behindertenorganisationen, den Zeitrahmen für die barrierefreie Gestaltung und damit die Umsetzung des Gesetzes bis zum Jahr 2019 ausgedehnt, weswegen Menschen mit Handicaps, ältere Menschen oder Eltern mit Kinderwagen sich weiterhin in Geduld üben müssen, um ungehindert unterwegs sein oder überall Einlass finden zu können.
„Für die Gemeinden ist das kein leichtes Thema, weil anzunehmen ist, dass die Mehrzahl öffentlicher Gebäude den Gemeinden gehört“, weiß Daniel Kosak, Leiter Presse und Kommunikation des Österreichischen Gemeindebundes, „insgesamt mehr als 60.000 Gebäude stehen im Eigentum der Gemeinden. Viele davon (Bauhöfe, Wirtschaftsgebäude etc.) sind von der Frage der Barrierefreiheit nicht betroffen, sehr wohl aber Amtshäuser, Schulen, Kindergärten etc. Viele dieser Gebäude sind aber schon jetzt barrierefrei zugänglich.“
Ernst Schöpf, Präsident des Tiroler Gemeindeverbandes und Bürgermeister der Gemeinde Sölden, ist mit seinem Gemeinde-Team vor kurzem erst in das umgebaute und jetzt barrierefrei gestaltete Gemeindeamt zurückgesiedelt: „Es ist inzwischen Standard – bei Neubauten sowieso, aber auch bei nachträglichen Eingriffen in den Bestand – dass die Gemeinden die Vorgaben zur Barrierefreiheit beachten. Da werden Stiegen beseitigt, Lifte eingebaut, die Türen öffnen anders etc. Auch der langsamere Gemeinderat denkt das automatisch mit.“

Hilfreicher Überblick
Die Bauordnung ist Ländersache. Die österreichischen Bundesländer müssen darin die Vorgaben des Bundes berücksichtigen. Als Publikation, die guten Überblick schafft, nennt Daniel Kosak das Merkblatt für die Gemeinden Tirols vom Jänner 2008, wo unter dem Stichwort Die barrierefreie Gemeinde all das aufgelistet wird, worauf die Gemeinden zu achten haben.
Auf neun Seiten wird darin beschrieben, wie die Gemeinden Barrierefreiheit verstehen und umsetzen sollten. Beim Durchlesen fällt auf, dass das eingangs bemühte, laienhaft durch die Brille eines Menschen mit Gehbehinderung blickende Auge kurzsichtig war. Gibt es doch zig Details, die auf die Schnelle gar nicht bedacht werden können. Von der Gestaltung der Wege, die mindestens 150 Meter breit sein und kein Längsgefälle über 6 % oder Quergefälle über 2 % aufweisen sollen, bis hin zu Gängen, Türen, Belägen, Aufzügen, WC-Anlagen oder PKW-Stellplätzen – für jeden baulichen Bereich mit potenziellen Hürden wartet eine erkleckliche Zahl an wünschenswerten Erleichterungen für Menschen mit Behinderungen oder Erkrankungen.

Aufholarbeit
„Gott sei Dank gibt es in diesem Bereich wirklich Positives zu berichten“, weiß Marianne Hengl, Obfrau des Vereins RollOn Austria (www.rollon.at). „Es gibt immer mehr öffentliche Gebäude, die ohne Weiteres barrierefrei zugänglich sind. Für mich ist es am schönsten, wenn ich beobachten kann, dass sich die Verantwortlichen schon bei der Planung wirklich etwas für Menschen mit Beeinträchtigungen überlegt haben. All die Vorkehrungen sorgen dafür, dass auch Menschen mit körperlichen Behinderungen das Gefühl haben können, in einer Behörde willkommen zu sein.“

Hengl verweist auf die ÖNORM B 1600, durch deren Berücksichtigung bei Neu- oder Umbauten Hürden für behinderte Menschen von vornherein verhindert werden können. „Meine Erfahrung hat gezeigt, dass es Gemeinden gibt, die sich sehr um benachteiligte Menschen kümmern, aber leider auch andere, die im Zusammenhang mit baulichen Barrieren viel mehr auf Optik und architektonische Schönheit Wert legen“, ortet Hengl Aufholarbeit im Bezug auf die Barrierefreiheit, aber auch im Umgang mit so genannten Randgruppen. „Als Behindertensprecherin und selbst Betroffene war ich selbst oft genug enttäuscht zu erfahren, wie wenig sich unsere Volksvertreter um ihre schwächsten Mitglieder gekümmert haben. Ich würde mir wünschen, dass öffentliche Einrichtungen ihre Vorbildwirkung auf den sozialen Gedanken konzentrieren und neben den wirtschaftlichen Aspekten das Miteinander, die Nachbarschaftshilfe und die Motivation zu ehrenamtlichen Aufgaben fördern.“ Der Appell ergänzt gleichsam den gesetzlichen Rahmen und stellt die Gemeinden vor Herausforderungen, die jenseits von Rampen oder Klingeln für Rollstuhlfahrer liegen.

Während trotz der Bemühungen durch die Gemeinden viele konkrete Erfahrungsberichte zur Barrierefreiheit davon erzählen, dass das Bewusstsein zwar vorhanden, der Aufholbedarf aber noch gegeben ist, gibt es auch Beispielhaftes zu berichten. Das Vogelparadies Weidmoos, das zu den Salzburger Gemeinden Lamprechtshausen und Sankt Georgen sowie zum „Natura 2000“-Netzwerk gehört, soll barrierefrei gemacht werden. „Entsprechende Umbau- und Erweiterungspläne wurden bereits im ‚Leader Plus‘-Beirat beschlossen“, wurde der Lamprechtshausener Bürgermeister Johann Grießer im Juli 2011 zitiert. Auch Menschen mit Behinderungen sollen das Paradies, in dem über 170 Vogelarten leben, ohne Begleitperson besuchen und genießen können. Schön.