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Touristischer Overkill

Weltweit stöhnen die Bewohner touristischer Hotspots unter der Last der Besucherströme. Das Phänomen des „Overtourism“ wird von lautstarken Protesten und (noch) zaghaften Eindämmungsversuchen begleitet, doch der Overkill steht erst bevor. 2030 werden fast zwei Milliarden Touristen unterwegs sein. Überall. 

Von Alexandra Keller

Es war eine wahrlich außergewöhnliche Invasion, auf die sich die Stadt Luzern da vorbereiten musste. Im Mai 2019 hatten sich knapp 12.000 Chinesinnen und Chinesen auf den Weg gemacht, um die Schweiz zu besuchen, und dabei auch in der pittoresken Stadt am Vierwaldstättersee vorbeizuschauen. 12.000 Chinesen. Angesichts der 1,4 Milliarden Einwohner der riesigen Volksrepublik ist das ein Klacks, für das knapp 82.000 Einwohner zählende Luzern war es das nicht. Extra-Toiletten, zusätzliche Abfalleimer, überfüllte Vorratskammern und eine gehörige Portion Spannung begleiteten das ostasiatische Besucherereignis.

Ein US-amerikanischer Konzern hatte seine tüchtigsten chinesischen Mitarbeiter mit diesem Kurztrip belohnt und den Schweizern eine XXL-Reisegruppe beschert. Keiner dieser Touristen übernachtete in der Stadt und doch durfte der Luzerner Tourismusdirektor von einer allein auf die chinesische Gästeschar zurückzuführende Wertschöpfung in Höhe von rund vier Millionen Franken schwärmen sowie gegenüber der Schweizer Zeitung „Blick“ voll Freude feststellen, dass viele der chinesischen Gäste ihm gegenüber die Absicht bekundet hatten, mit Freunden und Familien wieder zu kommen.

Be careful what you wish for. Luzern ist ein beliebtes Ziel für Touristen aus Asien und den USA. 9,4 Millionen Reisende besuchen die Stadt jährlich, rund 1,4 Millionen davon sind Tagesgäste. Allein deren Zahl soll laut einer Berechnung der Hochschule Luzern bis 2030 auf 12 bis 14 Millionen steigen. Dass die Einwohner Luzerns die mögliche Verzehnfachung der Tagesgäste mit ähnlichem Gleichmut tragen werden, wie die jüngste chinesische Invasion, ist fraglich.

Einheimische flüchten aus den Hotspots. Overtourism ist der Begriff, mit dem umschrieben wird, wenn die Touristenmassen für Einheimische und die Schönheiten, in denen sie leben, unerträglich werden. Der Wertschöpfung wohlwollender gegenüberstehende Touristiker bezeichnen das lieber als „Unbalanced Tourism“, doch wie auch immer man es dreht oder wendet, ist die Tatsache entscheidend, dass es schlicht zu viele Touristen sind, die mancherorts kommen und manchen Orten die Lebensqualität rauben. Längst gibt es Plätze in den touristischen Hotspots, die von Einheimischen total gemieden werden. Die Plätze selbst haben sich dabei zu einer Art Disney-Attraktion gewandelt mit Kitsch und Ramsch und allem Pipapo. Der Markusplatz in Venedig, die Ramblas in Barcelona, der Königspalast in Amsterdam, Machu Picchu in Peru oder die Einkaufsmeile Stradun in Dubrovnik gehören den Gästen, nicht den Einheimischen. Doch auch bergigere Faszinationen, wie der Mont Blanc in Frankreich oder der Mount Everest im Himalaya liefern immer wieder eindrucksvolle Bilder absurd wirkender Menschenschlangen. In ihnen löst sich auch die weitverbreitete und recht egozentrische Einbildung, dass „man selbst“ ja kein Tourist ist und „dazu gehört“, in sauerstoffarmes Wohlgefallen auf. Und die Luft wird noch dünner.

Die Zahl der Reisenden steigt jedes Jahr. Im Jahr 1950 heißt es, sind weltweit 25 Millionen Menschen „auf Reisen“ gewesen. Damals waren auch sie es noch, die oft bestaunt und von stolzen Einheimischen willkommen geheißen wurden. Bei den Massen, die sich zwischenzeitlich rund um den Globus bewegen, ist ein derart herzlicher Empfang unmöglich geworden.
2018 waren knapp 1,4 Milliarden Menschen unterwegs, es soll das zweitstärkste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen gewesen sein. Wer sich bei dieser Wortwahl an Wetterextreme oder Naturkatastrophen erinnert fühlt, liegt nicht ganz falsch. Der Klimakrise zum Trotz steigt die Zahl der Fluggäste kontinuierlich. Billigfluglinien befeuern die touristische Mobilität und trotzdem weithin bekannt ist, dass Kreuzfahrtschiffe gigantische Dreckschleudern sind, werden deren Kojen wie verrückt gebucht. Rund 30 Millionen Kreuzfahrt-Reisende sollen 2019 bereits an Bord gegangen sein. Der Drang, die Welt zu sehen und per Instagram die Eindrücke zu teilen, bleibt ungebrochen. Für 2030 wird orakelt, dass zwei Milliarden Menschen urlaubend unterwegs sein werden. 1927 wurde die Erde von zwei Milliarden Menschen bevölkert, derzeit sind es rund 7,75 Milliarden und mit deren Wohlstand wachsen die Möglichkeiten, auf Reisen zu gehen.

Venedig ist mit den Touristenmassen überfordert. Für manche Reiseziele sind diese Voraussagen wie eine gefährliche Drohung. Venedig, die prächtige italienische Lagunenstadt, gehört selbstverständlich dazu. Parallel zu den steigenden Besucherzahlen sinkt in der Serenissima die Zahl der Einwohner. Die Stadt wurde zu voll und sie wurde zu teuer, sodass zahlreiche Einwohner die Flucht aufs Festland angetreten haben. Aktuell stehen rund 50.000 Venezianer jährlich 30 Millionen Touristen gegenüber. Da bekommt nicht nur der Begriff „Unbalanced Tourism“ eine eigene Note. Angesichts des dramatischen Einwohnerschwundes und der sukzessiven Bedrohung der edlen Schönheit im Schatten des Aggressiv-Tourismus fordert die italienische Denkmal- und Umweltschutzvereinigung Italia Nostra sogar, dass die UNESCO die multipel bedrohte Stadt auf die „Rote Liste“ des gefährdeten Welterbes setzt. Dieser Eintrag würde bedeuten, dass das Welterbekomitee ein Programm für Abhilfemaßnahmen formuliert, die nach einem strengen Zeitplan umgesetzt werden müssten. Venedig würde damit unter Kuratel gestellt, was für die Erben der stolzen Dogen wohl eine Art Entmannung darstellen würde.

Sie versuchen selbst, den Untergang aufzuhalten. Und zelebrieren vorerst – so gut es eben geht – den Karneval, der bis 25. Februar 2020 die übliche Touristenmasse toppt. Durchschnittlich wird Venedig von bis zu 100.000 Menschen täglich besucht, in Zeiten des Karnevals werden pro Tag bis zu 130.000 Touristen gezählt. 2020 ist das letzte Jahr, in dem sie den anhaltenden Spektakeln kostenlos beiwohnen dürfen, denn ab Juli diesen Jahres wird Eintritt verlangt. Je nach Andrang müssen Tagesgäste dann zwischen drei und zehn Euro zahlen. Die von ihnen verursachten Kosten, wie etwa die auf den Kanälen so komplexe und jährlich 30 Millionen Euro verschlingende Müllentsorgung, soll mit diesen Einnahmen gestemmt werden. Zudem ist geplant, die Besucherströme mit Drehkreuzen zu regulieren und die Kreuzfahrkolosse aus den altstadtnahen Gewässern zu verbannen.

Zaghafte Eindämmungsversuche. Das nahe und nicht minder von den Ozeanriesen in der Zange gehaltene Dubrovnik lässt nur noch zwei statt sechs Schiffe pro Tag anlegen. In Barcelona wird versucht, das Alltagsleben der Einheimischen durch eine massive Reglementierung der Airbnb-Unterkünfte, Lärmschutz und einen Stopp für neue Hotelprojekte aufrechtzuerhalten. Rund um die Inka-Stadt Machu Picchu kümmern sich Parkwächter darum, dass die Touristen die markierten Wege nicht verlassen. Noch wirken die Eindämmungsversuche der Hotspots zaghaft. Wenn die Massen den Voraussagen entsprechend massiver werden, könnten jedoch andere Maßnahmen gefragt sein.

Der renommierte Schweizer Ökonom Bruno Frey denkt etwa daran, die bedrohten Kulturdenkmäler beliebter Städte auf einem Gelände außerhalb der Stadtmauern nachzubauen und mit Virtual-Reality-Animationen aufzuladen. „Dies wurde mit erheblichem Erfolg mit den Höhlen von Lascaux und Altamira durchgeführt. Die Touristen besuchen offensichtlich gerne die exakt nachgeahmten Höhlen mit den prähistorischen Bildern, nicht zuletzt, weil sie besser sichtbar sind“, untermauerte Frey seine Idee in einem Kommentar in der NZZ und hielt fest: „Der Eiffelturm wurde in der Größe eins zu zwei in Las Vegas, eins zu drei im chinesischen Shenzhen, eins zu vier in Bahria sowie an mindestens 45 anderen Orten auf der Welt repliziert. Im Prinzip könnten auch ganze Stadtzentren dem Original entsprechend aufgebaut werden.“ Um dem touristischen Overkill ein Schnippchen zu schlagen.